Westfälischen Nachrichten vom 21. Juni 2011:

Gucken, staunen, fühlen, deuten

Dülmen - Gespenstisch sehen sie aus, jene drei hohen Ge­stalten, die einander - wie zum intimen Flüstergespräch - die hagren Köpfe zuneigen. Schwarz-humorig bringt´s der Werkstitel auf den Punkt: Nachbesprechung II. Bei der ersten, ja, „da waren die wohl noch am Leben“, sagt Rüdiger G. Behrens über die Lämmerschädel auf hölzernen Stecken. Und ganz, ganz kurz spielt ein kleines Lächeln um seine Mundwinkel.

 

Zu gucken, zu staunen, zu befühlen und zu deuteln gibt es dieser Tage in Dülmens Könzgenstraße so einiges. Haben sich die 32 Anwohner doch Kunstwerke in ihre Vorgärten geholt, die die Straße zum Erlebnis, die Gärten zur (Freiluft-)Museumsmeile machen. 600 Wissbegierige gaben sich bereits beim Auftakt am 4. Juni ein Stelldichein. „Seither“, schätzt der Initiator, „waren´s sicher tausend“, die allein oder in Grüppchen zwischen den Exponaten aus Ton, Metall, Holz, Keramik, Papier, Glas, Sandstein und Marmor die Seele baumeln ließen.

 

Und sogar Hand anlegten, denn: Man darf sie anfassen, diese Skulpturen. Darf Räder drehen an der schneeweißen Installation der Künstlergruppe H2N. Glieder biegen an Uta Krueger-Naumanns Figur aus Rödeldraht. Marlis Müller aus Hausnummer 2, sie nimmt ih­ren bärtigen Fichtenholz-Kauz (fürs Foto) gar fest in die Arme. Und man spürt: Sie mag Peter Bolles „Wächter von Ypern“ so gar nicht mehr hergeben. „Tja“, sagt die brünette Dülmenerin mit einem Augenzwinkern, „wenn mein Mann das erlaubt, dann kaufen wir ihn.“

 

Zehntausende Euro, schätzt Initiator Behrens, sind allein die im Gras liegenden Bronzefiguren im hinteren Teil der Straße wert. Doch fürchte er gar nicht mal, dass die von Kunstkennern geklaut würden. Eher noch, „dass vielleicht einer der Schrottsammler die auf seinen Wagen lädt.“ Sagt´s - und man weiß nicht recht, ob er eventuell zu scherzen beliebt. Woher dem Publizisten die Idee kam, die Könzgen- zur Straße der Kunst zu machen - womöglich von oben? Der Mann mit Fliege und Baskenmütze vermag´s nicht zu sagen. „Woher kommen gute Ideen?“, fragt er gegen. Und es klingt nicht wirklich wie eine Frage. Richtig Spaß jedenfalls hätten bereits die ersten zwei Wochen gemacht, und zwar allen Beteiligten: Anwohnern, Besuchern und den Künstlern aus ganz Deutschland, die sich im Vorfeld via Internet „ihren“ Vorgarten hatten aussuchen dürfen. Denn, klar, die Chemie sollte stimmen zwischen jenen, die Kunst schaffen und auf Zeit verleihen - und solchen, die vier Wochen lang durch ihre Fenster und Haustüren draufschauen (müssen). 

 

Liliane, Marleen und Annika (16) sind heute von der nahen Hauptschule herübergeschlendert und finden den Keramik-Har­lekin der Künstlerin Maria Bockey (die selbst in der Straße wohnt) unisono: „süß!“. Auch sind sie spontane Fans der Arbeiten Peter Bolles, dessen Ypern-Wächter womöglich bald auf Dauer bei Marlis Müller einzieht. „So etwas Filigranes mit einer Kettensäge zu zaubern“, das beeindruckt nicht nur die drei Dülmener Mädels.

 

VON JULIA GOTTSCHICK, MÜNSTER